Schwerer Regen kann das Gefühl für einen besuchten Ort beeinflussen. Hollywood weiß das seit Jahren und unzählige Filmemacher haben diesen Effekt seither genutzt. Heute allerdings schreibt die Natur das Drehbuch und doch passt dieses Wetter zu eben jenem Platz, den ich besuche. Oświęcim, eine kleine Stadt im ländlichen Polen. Besser bekannt ist sie wohl unter dem Namen, den die deutschen Besatzer ihr während der kurzen, unheilvollen Zeit in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren gaben: Auschwitz.
Ein Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz folgt fast immer demselben Skript. Dabei ist es unerheblich, von woher man ankommt. Sie werden mit Ihrem Bus vor Auschwitz I eintreffen, sich am Eingang versammeln und einem Guide zugewiesen werden, der Sie durch das Museum leitet. Ihre Kamera und/oder Ihr Handy werden den gesamten Tag über in Ihrer Hand bleiben. Das erste Foto werden Sie direkt am Eingang schießen. Wahlweise direkt unter dem zynischem „Arbeit macht frei“-Schriftzug oder kurz davor werden Sie ein Selfie machen oder einen Freund den Schnappschuss ausführen lassen. Jeder wird erkennen, wo Sie sich aufgehalten haben.
Die Führung geht durch die älteren, mit Stein errichteten Gebäude der Welterbestätte und Sie werden all die Dinge sehen können, die nicht von den Nazis auf ihrer hastigen Flucht verbrannt wurden: Aus Menschenhaar gefertigte Teppiche, Berge von Schuhen, leere Dosen in denen vormals das Gift Zyklon B aufbewahrt wurde und unzählige Koffer derer, die hier umgekommen sind. Sie werden das dämonische Karma dieses Ortes spüren. Besonders in den Gefängniszellen und den Räumen mit den Öfen. Unglaublich, dass Menschen in diese winzigen Zellen gepasst haben. Unbegreiflich, dass Menschen anderen Menschen so etwas antaten.
Als nächstes werden Sie in den Bus steigen und zum zweiten, größeren Lager Auschwitz II – Birkenau fahren. Hier begegnen Ihnen die Szenen aus „Schindlers Liste“. Vielleicht können Sie einen roten Mantel in der Ferne erahnen, auf einem Haufen von Lumpen, die einst zu denen gehörten, die an diesem schrecklichen Ort ihr Ende fanden. Sicherlich werden Sie sehen, wo die Züge ankamen und wo die IG Farben-Ärzte jeden neuen Ankömmling bewerteten. Waren sie arbeitsfähig? Oder waren sie „unwert“ und konnten in den Gaskammern den Tod finden?
Zu Fuß erkunden Sie die Stelle, an denen lange Menschentransporte zu Ende gingen und machen dann den Gang zu den Trümmern der einstigen Gaskammern. Sie werden den Regen nicht spüren. Sie konnten sich auf das Wetter einstellen und tragen Ihre Multifunktionsjacke, gefertigt aus Kunststofffasern von Bayer. Vielleicht werden Sie sich aber bewusst, dass die Insassen vor über 70 Jahren nichts von alledem hatten. Sie hatten nur alte, notdürftig zusammengehaltene Stofffetzen und hölzerne Baracken, durch die der Regen drang.
Auf dem Rückweg zum Bus wird Ihnen der Guide vielleicht eine der noch stehenden Baracken zeigen. Sie werden die Dunkelheit spüren, die auch am Tag in diesen Behausungen lag und Sie werden die Kälte und den Wind fühlen. Stellen Sie sich einen schneereichen Winter im Jahr 1942 vor. Wie konnten Menschen das überleben? Möglich, dass der Guide Ihnen erzählt, wie viele Menschen in den Baracken hausen mussten und wie viele Baracken es hier gab, als IG Auschwitz noch im Betrieb war. Sie erfahren vielleicht sogar eine Geschichte von einem der Überlebenden.
Dachten Sie jemals darüber nach, warum Tausende von Menschen an diesem abscheulichen Ort zusammen gepfercht wurden? Und dass es Millionen von Individuen gab, die hier lebten, arbeiteten, überlebten oder starben? Jede/r Einzelne hatte seine oder ihre Familie und Freunde. Wir sollten die persönlichen Schicksale sehen, verborgen hinter der bekannten Geschichte von einer Million anonymer Opfer.
Bei Ihrem zweiten Besuch sollten Sie einen kleinen Umweg nehmen. Lassen Sie die Busse voller Touristen hinter sich, die durch das offizielle Konzentrationslager laufen. Lassen Sie die hinter sich, die nur das offizielle Bild sehen, was die Erinnerungsindustrie ihnen anbietet. Wenn Sie sorgfältig schauen, können Sie immer noch die Reste der Triebfeder hinter dieser Arbeits-/Tötungsmaschine erkennen. Kaum einer nimmt es noch wahr und keine offizielle Führung wird es erwähnen. Aber Teile von IG Auschwitz, jener kolossalen Industrieanlage der IG Farben, sind immer noch vorhanden.
Es gibt Betongebäude, die bis heute genutzt werden. Sie können den Industrieröhren folgen, die seit dem Eröffnungstag der Fabrik in Gebrauch sind und bis heute funktionieren. Fahren Sie die Grenzen dieses Komplexes ab und sehen Sie, wie lange Sie dafür brauchen. Wie riesig die Anlage ist, alles vor der Öffentlichkeit versteckt. Versteckt von den Instagramfotos mit den Szenen vom Auschwitz I-Eingang oder den Facebookbeiträgen vom Ort, an dem in Birkenau die Züge ankamen.
Es ist eingewoben in ein typisches polnisches Industriegebiet, in das Sie normalerweise nur kämen, wenn Sie hier Geschäften nachgehen würden. Aber es ist sehr wohl noch sichtbar. Sie müssen nur genau genug schauen und auch hinter das offizielle Bild blicken, dass Ihnen geboten wird.
Ihnen wurde beigebracht zu glauben, dass ein Haufen Wahnsinniger unschuldige Männer, Frauen und Kinder inhaftiert hat und sie gezwungen hat, bis zu ihrem qualvollen Ende zu arbeiten. Die Wirklichkeit ist viel schrecklicher: IG Auschwitz und das Konzentrationslager Auschwitz wurden von Geschäftsleuten geplant, die sich bei der Jagd nach immer größeren Profiten hier die billigste Ressource an Arbeitskräften zu Nutze machten. Vor zehn Jahren erhielt die Dr. Rath Gesundheitsstiftung von den Auschwitz-Überlebenden die „Stafette des Lebens und der Erinnerung“ (Relay of Life and Remembrance).Das geschäftliche Erbe des Öl-, Chemie- und Pharmaunternehmens IG Farben besteht jedoch fort. Bayer, Hoechst (heute Teil von Sanofi-Aventis) und BASF wurden mit IG Farben-Vermögenswerten aufgebaut, sie verkauften IG Farben-Medikamente und -Chemikalien, sie wurden von denselben Vorständen geführt und – am wichtigsten – sie folgten demselben Geschäftsmodel. Heute allerdings in einem erheblich größeren Maßstab.
Wo 1942, mitten im zweiten Weltkrieg, IG Farben noch einen Umsatz von 12,8 Milliarden Euro hatte, da kommt allein Bayer heute auf einen Umsatz von 46,3 Milliarden Euro.
Man könnte meinen, dass sich nicht viel geändert hätte.