Eine Recherche der britischen BBC hat erneut beunruhigende Zusammenhänge aufgedeckt zwischen der Anwendung von Medikamenten gegen Depressionen und die Ausübung von Totschlagdelikten. Vorangegangen war eine Anfrage im Rahmen des Informationsfreiheitsgesetzes an die britische Aufsichtsbehörde für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte (MHRA). Demnach standen während der letzten dreißig Jahre in Großbritannien 28 Fälle von Totschlag mit Menschen in Verbindung, die Medikamente aus der sogenannten Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) einnahmen. Der Psychologe Peter Tyrer beschäftigt sich intensiv mit den SSRIs. In einer Diskussion dieser Erkenntnisse bemerkt der Professor am Imperial College in London: „Es geschieht einfach zu häufig innerhalb dieser Arzneimittelklasse, als dass man von Zufall sprechen könnte.“
Zu der Klasse der SSRIs gehören Medikamente wie Prozac, Paxil und Zoloft. In den jüngsten Jahren wurde ihnen erhöhte Aufmerksamkeit zuteil, weil Berichte darauf hindeuteten, dass diese Arzneimittel für verheerende Nebenwirkungen verantwortlich sein können, etwa Psychosen und die Neigung zu extremer Gewalt. Eine Anschuldigung, die erwartungsgemäß von Pharmaherstellern zurückgewiesen wurde. Allerdings bescherte ihnen der Geschäftsbereich mit Arzneimitteln für mentale Gesundheit einen Umsatz von 35 Milliarden Dollar im Jahr 2015 ein. So wurden die Gefahren dieser patentierten Substanzen bewusst heruntergespielt. In und von den Medien wurden sie sogar beworben als vorgeblich „risikoarm für Babys“, falls sie während der Schwangerschaft eingenommen würden.
Der in der jüngsten Vergangenheit wohl meist berüchtigte Vorfall im Zusammenhang mit SSRIs fand 2012 in den Vereinigten Staaten von Amerika statt, als James Homes, ein vierundzwanzigjähriger PhD-Student, bei einer Massenschießerei in einem Kino in Colorado 12 Menschen tötete und 70 weitere verletzte. Holmes, der das Mittel Sertraline (Zoloft) einnahm, fiel zuvor weder durch Gewalttätigkeit noch durch ein Interesse an Waffen auf. Der britische Psychiater Prof. David Healy führte eingehende Gespräche mit den Angeklagten und war Teil von dessen Verteidigungsteam. In einem Kommentar zu dem Vorfall stellte er fest: „Ich glaube, wenn er nicht Sertraline eingenommen hätte, würde er niemanden ermordet haben.“ Holmes erhielt eine der längsten Haftstrafen in der amerikanischen Geschichte juristischer Urteile – 12-mal lebenslang plus 3 318 Jahre Gefängnis.
Pharmaunternehmen haben eine lange Tradition darin entwickelt, die Beziehungen zwischen SSRIs und Gewalt zu verschleiern. Nehmen wir den Fall von Joseph Wesbecker, eines 48-jährigen Mannes, der 1989 bewaffnet zu seiner vormaligen Arbeitsstelle in Louisville, Kentucky, kam, dort 8 Menschen niederstreckte und 12 weitere verletzte, bevor er sich selbst erschoss. Dieses Massaker geschah kaum einen Monat, nachdem Wesbecker mit der Einnahme von Prozac begonnen hatte. Als Folge dessen wurde gegen den Arzneimittelhersteller Eli Lilly ein Gerichtsverfahren in Gang gesetzt mit der Anschuldigung, dass das Medikament Prozac zu Wesbeckers Taten beigetragen habe. Doch wie die New York Times später in ihrer Rezension des Buches »Prozac Backlash«, welches sich mit den Gefahren der SSRI auseinandersetzte, berichtete, „wurden die Fakten sorgfältig manipuliert; es wurde zwischen den Klägern und dem Pharmakonzern ein geheimes Übereinkommen getroffen, selbst als noch der Prozess fortgesetzt wurde; und es wurde vermieden, Prozac mit einem Warnhinweis zu versehen, der auf mögliches gewalttätiges oder suizidales Verhalten aufmerksam machte.“ Seit Markteinführung der ersten SSRIs sind inzwischen Jahrzehnte vergangen, und es wird angenommen, dass seitdem von den Herstellern Milliarden Dollar in die Beilegung von Verfahren gesteckt wurden, die durch Patienten, Opfer und Familien angestrengt wurden.
Während die Einwände hinsichtlich der Risiken von SSRIs nun sicherlich einige Zeit anhalten werden, steht bereits eines fest: Die Pharmaindustrie wird alles daran setzen, die gigantischen Profite aus diesem Geschäft so lange wie nur irgend möglich aufrechtzuerhalten. In diesem Ansinnen wird sie folglich versuchen, die jetzige öffentliche Beunruhigung ob der Schädlichkeit dieser Medikamente zu zerstreuen. Originell ist dieses Vorgehen nicht. Denn für patentgeschützte Arzneimittel anderer Anwendungsgebiete gilt das gleiche Muster. Und so werden weiterhin die Behauptungen über die angebliche Harmlosigkeit jener Substanzen herausposaunt werden, so häufig und prominent wie möglich. Vor diesem Hintergrund gibt es keinen Zweifel daran, dass das Multimilliarden Dollar schwere ‚Geschäft der Pharmaindustrie mit mentalen Krankheiten’ nicht weniger zynisch ist als dessen Gegenpart bei den körperlichen Beschwerden. Am Ende gibt es nur eins, was für diese Investmentindustrie vorrangig ist und seit ihrem Bestehen immer war: Profit über Leben.