Noch ist die Neuauflage der Regierungskoalition zwischen Unionsparteien und SPD nicht endgültig in trockenen Tüchern, aber absehbar ist schon jetzt, dass der dringend notwendige große Wurf im Gesundheitswesen mit der Großen Koalition ein weiteres Mal ausbleiben wird. Längst wäre dieser historische Wandel realisierbar: mit dem Umstieg in eine präventive Gesundheitsversorgung und durch die Einführung ursachenorientierter Therapien. Doch anstatt den erdrückenden Kostenanstieg wirksam einzudämmen, verlieren sich die so titulierten Volksparteien im Kleinklein von Placebo-Maßnahmen, die die bröckelnde Fassade des Betrugssystems bewahren sollen. Tatsächlich ist das Solidarsystem infolge des menschenverachtenden Geschäfts mit der Krankheit unverkennbar an den Rand der Finanzierbarkeit gedrängt. Angesichts dieser Probleme, kann die aufgesetzte Debatte um die Einführung einer „Bürgerversicherung“ nur als Nebelkerze verstanden werden.
Betrug ist ein hartes Wort. Doch kann man es anders nennen, wenn führende Politiker – wider besseres Wissen über die Verfügbarkeit sämtlicher Mittel zum sofortigen Umstieg in ein präventives Gesundheitswesen – Millionen Menschen den Zugang zu natürlicher Gesundheit verweigern? Die von den GroKo-Strategen so dreist ins Schaufenster gehängte Verzögerungstaktik ist mitnichten einer selbst verordneten Denkpause vor dem großen Anlauf-Nehmen zu echten Reformen geschuldet. Die Situation ist lange bekannt. Und auch über die Möglichkeit zur massiven Zurückdrängung der so genannten „Volkskrankheiten“ – allen voran Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, Osteoporose, rheumatische Erkrankungen – besteht aus wissenschaftlicher Sicht kein Zweifel.
Mittlerweile überschreiten die Gesundheitsausgaben in Deutschland die Marke von 1 Milliarde Euro pro Tag. Im Jahr 2017 summierten sich die Aufwendungen auf rund 374 Mrd. Euro; gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um 4,9 Prozent. Zuvor waren es im Jahresvergleich bereits 3,8 Prozent. Bei einem gegenwärtigen Anteil von 11,3 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt wachsen die Gesundheitsausgaben schneller als die Wirtschaft insgesamt. Was das für eine Ökonomie, ob national oder global, an Gefahren mit sich bringt, kann man auch vorhersagen, ohne die zweizüngigen Warnungen eines World Economic Forum vor „der stillen Pandemie“ bedrohlicher Krankheiten zu kennen. Die Belastungen, die der Gesellschaft durch das Investmentgeschäft mit der Krankheit erwachsen, sind nicht mehr zu schultern.
Beredtes Beispiel für die Profitgier des skrupellosen Pharma-Business mag der aktuelle Fall um das Präparat Ocrelizumab sein, welches – vom Schweizer Hersteller Roche unter neuem Namen auf den Markt gebracht – eine Preissteigerung um mehr als Zehnfache veranschlagt. Gegenüber dem Vorläufer Rituximab bringt es keine Verbesserungen mit, und es besitzt auch noch genauso verheerende Nebenwirkungen. Lediglich das Anwendungsgebiet wurde auf Multiple Sklerose ausgeweitet. – Profit auf dem Rücken von Patienten, mithilfe von Symptombehandlung und zulasten aller Versicherten.
Aktuell auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei, in welcher der überdurchschnittliche Anstieg der Arzneimittelausgaben eingeräumt wird. Bei der Gesetzlichen Krankenversicherung betrug der Mehraufwand in den Jahren 2007 bis 2016 demnach 33,7 Prozent. Im gleichen Zeitraum nahmen die Durchschnittspreise für neue und patentgeschützte Medikamente um das Vierfache zu.
Das ewige Lamento der Krankenkassen über ausufernde Kosten hält trotz aktueller Rekordüberschüsse an, ebenso wie das stur vorgebrachte Argument einer alternden Bevölkerung und die Mär vom medizinisch-technischen Fortschritt. Dass jedoch weder das eine noch das andere die Selbstbedienungsmentalität legitimieren kann, die diesem pharmaorientierten und obendrein korrupten Gesundheitssystem anhaftet, wird von den Geldverteilern im System nicht hinterfragt. Man hat sich eben gut eingerichtet.
Gerade noch rechtzeitig hatte die moribunde SPD im Wahlkampf die „Abschaffung der Zweiklassenmedizin“ als zugkräftiges Thema für sich entdeckt. Instrument dazu sei die Bürgerversicherung. Unter dem Druck der Unionsparteien ist dieses wohlklingende Ziel in den Koalitionsverhandlungen schwammigen Formulierungen gewichen. Man wolle „ein modernes Vergütungssystem schaffen, das den Versorgungsbedarf der Bevölkerung und den Stand des medizinischen Fortschritts abbildet“, heißt es geradezu zynisch im Vertrag. Und weiter: „Die Bundesregierung wird dazu auf Vorschlag des Bundesgesundheitsministeriums eine wissenschaftliche Kommission einsetzen, die bis Ende 2019 unter Berücksichtigung aller hiermit zusammenhängenden medizinischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Fragen Vorschläge vorlegt. Ob diese Vorschläge umgesetzt werden, wird danach entschieden.“ Kurzum, erwartungsgemäß abgebügelt. Auch hier behalf man sich der eisernen Maxime: Wenn Du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einen Arbeitskreis!
Doch selbst wenn SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach unverdrossen auf den Busch klopft, ändert das zur Schau getragene Gezerre um eine Bürgerversicherung nichts an der Tatsache, dass die eigentlichen Übel des derzeitigen „Gesundheits“-Systems offenkundig woanders liegen. Denn was würde eine Aufhebung der privaten Krankenkassen an der strukturellen Pharmaorientierung des jetzigen Gesundheitssystems ändern, welche hauptverantwortlich für die immense Kostensteigerung ist? Unter dem Schlachtruf „Kampf der Zweiklassenmedizin“ wird hier Veränderungswille vorgetäuscht, wo keiner ist. Ganz nebenbei aber durfte der Streit um eine einheitliche Krankenversicherung als Türchen herhalten, um eine Angleichung der Arzthonorare in den Koalitionsvertrag einzuschieben. Wer wird wohl dafür zu zahlen haben?
Auch im Bereich der Pflege verschärfen die zukünftigen Koalitionäre mit ihrer „Bleibt-alles-beim-Alten“-Politik das Problem, das sie vorgeben, lösen zu wollen. Das im Koalitionsvertrag verabredete Sofortprogramm, „8000 neue Fachkraftstellen […] in Pflegeeinrichtungen zu schaffen“, ist angesichts der Missstände im Pflegewesen offensichtlich nur der viel zitierte Tropfen auf den heißen Stein. Doch wer fragt, warum es überhaupt dazu kommt, dass so viele Kranke der Pflege bedürfen? Weder heißt Altwerden zwangsläufig Krankwerden, noch würde es bei wirksamer Prävention der Volkskrankheiten so viele pflegeintensive Patienten geben.
Von Seiten der etablierten Politik ist also gewiss keine Initiative zu nachhaltigen Veränderungen zu erwarten. Es liegt an uns, selbst für diesen erforderlichen Wandel zu sorgen. Dies gelingt, indem wir unbeirrt Aufklärung leisten, Druck aufbauen und Akteuren dieses verlogenen Gesundheitssystems wieder und wieder auf den Zahn fühlen. Der Offene Brief Dr. Raths an die Bundeskanzlerin Angela Merkel ist hierbei ein wertvolles Dokument.