Neue Forschungen, die in der Fachzeitschrift PLOS One veröffentlicht wurden, zeigen, dass die Arzneimittelindustrie ein »verstecktes Netz der politischen Einflussnahme« im britischen Parlament pflegt. Bei der Untersuchung von Interessenkonflikten zwischen den all-parteilichen Parlamentsgruppen für Gesundheitsfragen (APPGs) im Vereinigten Königreich und der Pharmaindustrie in den Jahren 2012 bis 2018 entdeckten Forscher der Universität Bath, dass Pharmaunternehmen sowie von der Pharmaindustrie finanzierte Patientenorganisationen insgesamt mehr als 2 Millionen Pfund an die Gruppen gespendet hatten – eine Summe, die mehr als 30 Prozent der gesamten Finanzierung entspricht, die sie in dem untersuchten Zeitraum von sechs Jahren erhalten haben. Unter Berufung auf Bedenken, wonach Unternehmensinteressen ihren Zugang zu den APPGs in Großbritannien ausnutzten, indem sie diese in einen »dunklen Raum für verdeckte Lobbyarbeit« verwandeln, erklären die Forscher, dass die Finanzierung dieser parlamentarischen Gruppen seitens der Pharmaindustrie die Möglichkeit einer »institutionellen Korruption« eröffnet.
Die PLOS One-Ergebnisse werfen wichtige Fragen auf über die vermeintliche Unabhängigkeit von APPGs im britischen Politsystem. Als informelle parlamentarische Gruppen, die von und für Abgeordnete(n) des britischen Unter- und Oberhauses geführt werden, erhalten APPGs keine parlamentarische Finanzierung, können aber externe Zahlungen zur Deckung der Kosten für Veranstaltungen, Sekretariate, Reisen, Berichte und andere Aktivitäten annehmen. Angesichts des wachsenden Ausmaßes, zu welchem diese Gruppen dem Lobbyismus multinationaler Wirtschaftsinteressen ausgesetzt sind, werden zunehmend Fragen gestellt hinsichtlich der Akzeptanz dieser Unternehmensfinanzierung.
Festgestellt wurde, dass 58 gesundheitsbezogene APPGs insgesamt 468 Zahlungen von Pharmaunternehmen bzw. von durch die Pharmaindustrie finanzierten Patientenorganisationen erhalten haben. Von den 35 Pharmafirmen, die direkt oder indirekt APPGs finanzierten, waren die größten Geldgeber Novartis, Bayer und Pfizer. Beim größten Empfänger von Zuwendungen aus den Händen der Pharmaindustrie handelte es sich um eine Gruppe, die sich mit Krebs befasst. In diesem Bereich sei der Einfluss der Pharmaindustrie in Großbritannien am größten, vermuten die Forscher, und die gezielte Art der Finanzierung von APPGs spiegele den Versuch der Pharmaunternehmen wider, sich geschäftliche Vorteile zu sichern.
Bezeichnenderweise stellten die Forscher auch fest, dass 50 APPGs Zahlungen von Patientenorganisationen erhielten, die selbst Interessenkonflikte aufweisen. Insgesamt 304 Zahlungen im Wert von fast 1 Million Pfund wurden durch 57 Patientenorganisationen geleistet, die während des sechsjährigen Untersuchungszeitraums wiederum mehr als 27 Millionen Pfund von Arzneimittelherstellern erhielten. Patientenorganisationen, die im Gebiet Krebs aktiv sind, waren unter diesen Geldgebern am stärksten vertreten. Die Forscher kommentieren dies damit, dass die Pharmaindustrie versucht, die Denkweise der von ihr finanzierten Personen und Institutionen zu formen, oft zulasten der Gesundheit der Patienten. Außerdem beschreiben die Autoren, wie wegen der Zulässigkeit der Finanzierung von APPGs durch Pharmaunternehmen die öffentliche Gesundheitspolitik in Großbritannien Gefahr läuft, dem pharmaseitigen Streben nach Gewinnmaximierung unterworfen zu werden.
Da Großbritannien eine der führenden Pharma-Exportnationen der Welt ist, sollte es nicht überraschen, dass es ein »verstecktes Netz politischer Einflussnahme« innerhalb des Parlaments gibt. Erstaunlicher ist die Tatsache, dass die britische Regierung sich des allgegenwärtigen Einflusses der Pharmaindustrie auf die Praxis der Medizin und das Gesundheitswesen seit langem bewusst ist, sich aber im Grunde dafür entschieden hat, nichts dagegen zu unternehmen.
Der Beweis dafür findet sich in einem wenig bekannten Bericht, der im Juli 2005 von einem vom britischen Unterhaus eingesetzten Sonderausschuss veröffentlicht wurde. Unter dem Titel ›Der Einfluss der Pharmaindustrie‹ stellte der Bericht vernichtend fest, dass das britische Gesundheitssystem, die Ärzteschaft und die Regierung allesamt darin versagt haben, sicherzustellen, dass die Aktivitäten der Arzneimittelhersteller mit den Interessen der Patienten in Einklang gebracht werden. Unter Berufung auf Sicherheitsbedenken und das zunehmende Problem medikamenteninduzierter Krankheiten kritisierte der Bericht offen das Versagen der Pharmaindustrie, die Gesundheit der Patienten über die Interessen ihrer Aktionäre zu stellen. Angemahnt wird im Bericht auch, dass es zu wenig unabhängige Forschung gibt, welche medikamentöse und nichtmedikamentöse Behandlungsansätze vergleicht. Der Bericht verschwand jedoch in der Versenkung. Seine Empfehlungen wurden weitgehend ignoriert.