Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi stellte in ›Krieg und Frieden‹, seinem Romanklassiker aus dem neunzehnten Jahrhundert, fest: »Die beiden mächtigsten Krieger sind Geduld und Zeit«. An diese Worte wurde ich erinnert, als ich kürzlich auf einen Artikel in der niederländischen Zeitung NRC Handelsblad stieß, in welchem die Abschaffung der Pharmaindustrie verlangt wurde. Der Artikel erinnert an eine Rede, die vor einem Vierteljahrhundert in der Stadthalle Chemnitz gehalten wurde und in welcher der Arzt und Wissenschaftler Dr. Matthias Rath die Abschaffung der Pharmaindustrie forderte. Dr. Rath erklärte, dass die Profite der Pharmaindustrie von der Aufrechterhaltung und Ausweitung von Gesundheitsproblemen auf globaler Ebene abhängen, und warf dem ›Geschäft mit der Krankheit‹ vor, dass es mit den Grundprinzipien der Menschenrechte unvereinbar ist. Damals, 1997, war diese Art von offener Kritik an der Pharmaindustrie und ihrem skrupellosen Geschäftsmodell geradezu unerhört. Heute jedoch, im Laufe der Zeit, so macht die Veröffentlichung des NRC-Artikels deutlich, wird solche Kritik zum Mainstream.
Der NRC-Artikel des niederländischen Politikwissenschaftlers Joost Smiers beschreibt, wie die Gesellschaft heute der Gnade der Pharmaindustrie und ihrer Aktionäre ausgeliefert ist. »Was mich betrifft«, schreibt Smiers, »ist es höchste Zeit, das gesellschaftliche Gefühl der Ohnmacht gegenüber Big Pharma zu durchbrechen.«
Die Frage, ob wir die Pharmakonzerne noch brauchen, beantwortet Smiers mit »Nein«. Wenn solche Gedanken in einer großen europäischen Tageszeitung veröffentlicht werden, kann es keinen Zweifel daran geben, dass wir in Zeiten des Wandels leben.
Pharmaindustrie überflüssig machen
Smiers weist darauf hin, dass die Arzneimittelforschung unabhängig von der Pharmaindustrie an Universitäten und anderen unabhängigen Forschungsinstituten durchgeführt werden kann. Er plädiert dafür, umfangreiche Forschungsfonds einzurichten, die aus öffentlichen Mitteln gespeist werden und in denen unabhängige Ausschüsse darüber entscheiden, für welche Krankheiten und Forscher die Mittel verwendet werden sollen. Smiers betont, wie wichtig es ist, dass diese Ausschüsse unabhängig von den Regierungen arbeiten. Vor allem schlägt er vor, dass auch alternative Gesundheitstherapien wie Vitamine von diesem Ansatz profitieren könnten.
Ebenso wichtig ist Smiers, dass alles Wissen, das aus der medizinischen Forschung resultiert, öffentlich und frei verfügbar sein sollte. Im Einklang mit der von Dr. Rath und unserer Stiftung seit langem vertretenen Position ergänzt er, dass es keine Patente mehr geben sollte, um die derzeitige Situation zu vermeiden, in der Patentinhaber ein Monopol auf die Nutzung oder Nichtnutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse haben.
Smiers spricht ein weiteres zentrales Hindernis für das ethische Funktionieren der Gesundheitssysteme an: den Verkaufspreis von Arzneimitteln. Hier schlägt er vor, dass Unternehmen, die für die Herstellung von Arzneimitteln aus unabhängig finanzierter Forschung bezahlt werden, diese zum Selbstkostenpreis anbieten sollten. Auf diesen niedrigen Preis könnte dann eine Abgabe aufgeschlagen werden, um die Finanzierung künftiger Forschungsprojekte zu unterstützen. Auf diese Weise, so Smiers, könne das wirtschaftliche Gewicht der Aktionäre und des Marketings der Pharmaindustrie beseitigt werden. Letztendlich sieht er die Pharmaindustrie als aufgekauft oder enteignet an und somit im Grunde obsolet gemacht.
Smiers räumt bereitwillig ein, dass die in den großen Pharma-Nationen ansässigen Arzneimittelkonzerne nichts von alldem stillschweigend hinnehmen werden. Er weist darauf hin, dass die heutigen Pharmaunternehmen zwar »erschreckend mächtige Monopolisten« sind, stellt aber dagegen, dass sie »gelinde gesagt nicht beliebt sind«. Dies eröffne Möglichkeiten!
»Wenn wir Big Pharma überflüssig machen«, schreibt Smiers, »schlagen wir mehrere Fliegen mit einer Klappe. Die Gesundheitsversorgung wird erschwinglicher. Das gesamte Wissen, das für die Entwicklung von Medikamenten benötigt wird, wird nicht mehr durch Patente abgeschirmt sein, sondern vom privaten in den öffentlichen Besitz übergehen. Außerdem wird der Zugang zu Medikamenten wieder zu einem Menschenrecht und nicht mehr Spielball der Aktionäre von Big Pharma sein. In unserem Gesundheitssystem haben sie nichts zu suchen. Sie sollten sich davon fernhalten.«
Ein neues Zeitalter in der Medizin
Unverkennbar spiegelt Smiers‘ Artikel einige der Schlüsselideen und -konzepte wider, die in Dr. Raths Chemnitzer Programm von 1997 enthalten sind. Bevor Dr. Rath diese Rede hielt, war es regelrecht unfassbar, dass überhaupt jemand öffentlich die Pharmaindustrie beschuldigte, das Haupthindernis für medizinische Durchbrüche bei der Bekämpfung von Krankheiten zu sein. Die Tatsache, dass Pharmaunternehmen ein unmittelbares finanzielles Interesse am Fortbestand von Krankheiten haben, wurde zu dieser Zeit einfach nicht wahrgenommen.
Das Chemnitzer Programm von Dr. Rath öffnete nicht nur die Schleusen für eine breitere Kritik an der Pharmaindustrie und ihrem Geschäftsmodell, sondern machte auch deutlich, dass Herzinfarkte und Schlaganfälle aufgrund neuer Erkenntnisse auf dem Gebiet der Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch natürliche Gesundheitsansätze, die auf der Verwendung von Vitaminen und anderen Mikronährstoffen basieren, vermeidbar sind. Damit wurde der Grundstein für ein neues Gesundheitswesen gelegt, in dem in einem ersten Schritt der Erhalt und die Verbesserung der Gesundheit zu einem unveräußerlichen Menschenrecht erklärt werden sollte. Zur Erreichung dieses Ziel sei es wichtig, so betonte Dr. Rath, die medizinische Forschung und die Zulassung von Arzneimitteln einer umfassenden öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen.
Nach Erscheinen des Artikels von Joost Smiers im niederländischen NRC Handelsblad ist nunmehr offensichtlich, dass wir – ein Vierteljahrhundert nach Dr. Raths historischer Chemnitzer Rede – an der Schwelle zu einer neuen Ära der Medizin stehen. Die Abschaffung der Pharmaindustrie ist eine Voraussetzung für die durchgreifende Umgestaltung der Gesundheitsversorgung und dafür, dass der entsprechende Zugang zu einem Menschenrecht wird. Je schneller wir dieses erstrebenswerte Ziel erreichen, desto größer wird der Nutzen für die gesamte Menschheit sein.