Image: Dr. Rath Health Foundation
Zwischen den 1970er und den frühen 1990er Jahren wurden im Vereinigten Königreich mehr als 30 000 Patienten mit Bluttransfusionen oder Blutprodukten behandelt, die mit HIV oder Hepatitis C kontaminiert waren. Dies führte zu mehr als 3 000 Todesfällen und hinterließ bei Tausenden von Menschen anhaltende gesundheitliche Probleme. Ein neuer Bericht kommt zu dem Schluss, dass die britischen Behörden den Skandal jahrzehntelang absichtlich vertuscht und heruntergespielt haben. Arzneimittelhersteller wie Bayer und Armour Pharmaceuticals werden beschuldigt, von der Verseuchung der Präparate gewusst aber sie trotzdem weiter verkauft zu haben. Der Skandal bietet einen schockierenden Einblick in das profitgetriebene Wesen des ›Pharma-Investmentgeschäfts mit der Krankheit‹.
Das Problem begann, als der Nationale Gesundheitsdienst des Vereinigten Königreichs (NHS) in den 1970er Jahren außerstande war, die Nachfrage nach Blut und aus Blut gewonnenen Produkten zu decken. Infolgedessen wurden Produkte aus den Vereinigten Staaten und anderen Ländern in das Vereinigte Königreich importiert, die von bezahlten Blutspendern stammten. Zu diesen Spendern gehörten Häftlinge und Drogenabhängige, bei denen ein hohes Risiko einer HIV- oder Hepatitis-C-Infektion bestand. Routinemäßige Untersuchungen auf HIV in Blut und Blutprodukten wurden im Vereinigten Königreich erst 1985 eingeführt, Untersuchungen auf Hepatitis C erst 1991.
Menschen mit Hämophilie und anderen Gerinnungsstörungen waren von dem Skandal überproportional betroffen, da sie Behandlungen erhielten, die aus großen Chargen kontaminierten Blutplasmas hergestellt wurden. Dass infizierte Personen unwissentlich HIV oder Hepatitis C an ihre Partner zuweilen weitergaben, war geradezu unvermeidlich. Trotz der wachsenden Zahl von Opfern weigerten sich der NHS sowie mehrere aufeinander folgende britische Regierungen jahrelang, jegliches Fehlverhalten zuzugeben. Tatsächlich war das Vereinigte Königreich jedoch eines der letzten Industrieländer, welches ein Screening von gespendetem Blut auf Hepatitis C einführte. Ebenso verzögert wurde auch die Einführung der Hitzebehandlung von Blutprodukten zur Beseitigung von HIV. Entgegen den lange aufrecht erhaltenen Behauptungen der britischen Behörden war der Skandal also mitnichten ein Versehen.
Nach vielen Jahren unermüdlicher Kampagnenarbeit der Betroffenen kündigte die damalige britische Premierministerin Theresa May im Juli 2017 schließlich eine öffentliche, gesetzlich vorgeschriebene Untersuchung an. Unter dem Vorsitz eines ehemaligen Richters des Obersten Gerichtshofs sollte untersucht werden, warum Menschen infiziertes Blut bzw. infizierte Blutprodukte erhielten, welche Auswirkungen dies auf die Familien hatte, wie die Behörden reagierten, welche Unterstützung geleistet wurde, ob eine Einwilligung vorlag und ob es eine Vertuschung gab. Die Beweise wurden zwischen Sommer 2018 und Februar 2023 gesammelt.
Die Untersuchung hat zwei Zwischenberichte veröffentlicht. Der erste erschien im Juli 2022 und empfahl Übergangszahlungen in Höhe von mindestens 100 000 £ (118 000 €) an die Opfer. Die britische Regierung akzeptierte diese Empfehlung, und die Zahlungen erfolgten im Oktober 2022. Der zweite Zwischenbericht erschien im April 2023 und empfahl die Ausweitung der Übergangszahlungen auf die betroffenen Eltern, Kinder oder Geschwister von infizierten Personen. Zudem sah er die Einführung einer umfassenden Entschädigungsregelung vor.
Der Abschlussbericht, der am 20. Mai 2024 in sieben Bänden veröffentlicht wurde, zeigt systemische, kollektive und individuelle Versäumnisse beim Umgang mit dem Risiko durch infizierte Blutprodukte und bei der Reaktion auf die Folgen des Skandals auf. Zu den zahlreichen Empfehlungen des Berichts gehören die sofortige Einrichtung eines Entschädigungssystems, eine förmliche Entschuldigung und die routinemäßige Befragung neuer Patienten nach Bluttransfusionen vor 1996, um nicht diagnostizierte Fälle zu ermitteln.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts sprach Premierminister Rishi Sunak im britischen Parlament von einem »Tag der Schande für den britischen Staat« und sagte, er wolle sich »von ganzem Herzen und unmissverständlich für diese schreckliche Ungerechtigkeit entschuldigen«. Er räumte ein, dass versucht worden sei, den Skandal zu vertuschen, einschließlich des Verschwindenlassens und der Vernichtung von Schlüsseldokumenten, und verpflichtete sich, die Entschädigungsempfehlungen des Berichts umzusetzen.
Zwei Tage später, am 22. Mai 2024, rief Sunak jedoch plötzlich und unerwartet eine Parlamentswahl für den 4. Juli 2024 aus. Da seiner Partei eine Niederlage prognostiziert wird, bleibt es nun wohl Sunaks Nachfolger überlassen, dafür zu sorgen, dass die zahlreichen Empfehlungen des Berichts vollständig umgesetzt werden.
Die Rolle der Pharmaunternehmen Bayer und Armour Pharmaceuticals in diesem Skandal ist besonders schockierend. Die britische Zeitung Daily Telegraph hat dargelegt, wie beide Unternehmen die infizierten Blutprodukte nicht sofort nach Bekanntwerden des Vorfalls zurückzogen, sondern sie bewusst weiter vertrieben, um ihre Gewinne nicht zu schmälern. Der Marketingplan von Bayer sah demnach sogar vor, die Produkte in Ländern wie Taiwan, Hongkong, Malaysia, Singapur und Australien loszuwerden.
Trotz der rücksichtslosen Gier, die sie an den Tag legten, wurde im Vereinigten Königreich noch kein einziges Verfahren gegen einen dieser Pharmakonzerne angestrengt. Vorläufig werden daher, wie auch im Fall des COVID-19-Impfstoffskandals, etwaige Entschädigungszahlungen an die Opfer wahrscheinlich vom britischen Steuerzahler aufgebracht werden. Schätzungen zufolge könnten sich die Gesamtkosten auf bis zu 10 Milliarden Pfund (11,7 Milliarden Euro) belaufen. Sir Brian Longstaff, der die Untersuchung leitete, sagte, der Skandal habe »Leben, Träume, Freundschaften, Familien und Finanzen« zerstört, und fügte hinzu, dass die Zahl der Todesfälle immer noch zunehme. Seine Worte führen uns aufrüttelnd vor Augen, warum das ›Pharmageschäft mit der Krankheit‹ unverzüglich beendet werden muss.