Ich kannte Linus Pauling aus meiner Zeit als Medizinstudent. Erstmals hatte ich ihn bei einer Konferenz auf der Insel Mainau in Süddeutschland getroffen. Bei dieser Konferenz hatten junge Forscher die Gelegenheit, mit Nobelpreisträgern zusammenzutreffen. Später traf ich Linus im Rahmen der Friedensbewegung zur Verhinderung der Atomwaffen-Stationierung.
Im Jahr 1983 begleitete ich ihn auf einer Vortragsreise durch Deutschland. Bereits 1963 hatte Linus Pauling seinen 2. Nobelpreis für seine Hilfe beim Zustandekommen des Atomaren Teststoppabkommens erhalten. In den 80er Jahren traf ich mehrere Male als Student und junger Arzt mit Linus zusammen, doch keines der Treffen war von so entscheidender Bedeutung wie das Treffen auf seiner Ranch in Big Sur im Spätherbst 1989.
Die letzten beiden Wochen im Oktober befand ich mich auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten und stellte die soeben in Arteriosclerosis, der Zeitschrift der American Heart Association, veröffentlichte Arbeit über Atherosklerose und den neuen Risikofaktor Lipoprotein(a) vor, die wir an der Universität Hamburg erforscht hatten. Man hatte mich eingeladen, diese aufregenden Forschungsarbeiten in der Abteilung für Stoffwechselkrankheiten der National Institutes of Health in Bethesda, an der medizinischen Fakultät der Universität Chicago, dem Baylor College of Medicine in Houston, der Forschungsabteilung für Atherosklerose an der Universität von Kalifornien in La Jolla und bei Genentech, dem berühmten Biotechnologieunternehmen in San Francisco vorzustellen. Die Lipoprotein(a)-Story war ein “heißes Thema” an jenen weltberühmten Forschungszentren, doch der Zusammenhang mit dem Vitaminstoffwechsel wurde dort gar nicht erkannt.
Für das letzte Oktoberwochenende hatte ich einen Besuch bei Linus Pauling auf seiner Ranch in Big Sur arrangiert. An diesem Samstag fuhr ich von San Francisco – wo ich am Freitag bei Genentech einen Vortrag gehalten hatte – nach Big Sur. Es war eine wunderschöne Fahrt von 4 Stunden auf dem landschaftlich schönen Highway 1 entlang der Pazifikküste. Ich hatte Linus bereits zuvor auf seiner Ranch besucht, doch ich spürte, dass dieser Besuch wichtiger war.
Nachdem ich die Viehtore der schmalen gewundenen Straße vom Highway 1 zu seiner Ranch hinunter passiert hatte, erreichte ich schließlich das hölzerne Ranchgebäude, das sich Linus als Zufluchtsort für die letzten Jahrzehnte seines Lebens ausgesucht hatte. Die Haustür war nie verschlossen und ich trat ein und bahnte mir meinen Weg durch Berge von wissenschaftlichen Zeitschriften, die sich im Laufe der Jahre in dem Flur zwischen Eingangstür und Wohnzimmer angesammelt hatten. Linus saß in einem Drahtstuhl, der offensichtlich mehrere Jahrzehnte überdauert hatte. Das Wohnzimmer sah wie das Epizentrum eines ständigen wissenschaftlichen Wirbelsturms aus. Bücher, wissenschaftliche Artikel und handschriftliche Notizen über eines der ungelösten Rätsel der Physik, die Atomstruktur der Quasi-Kristalle, lagen herum. Linus hatte die letzten Monate an der mathematischen Analyse dieser Strukturen gearbeitet – nur mit seinem Verstand und einem Taschenrechner.
Linus hatte mein Eintreten nicht bemerkt. Als er mich sah, sprang er auf “Hallo Matthias, gut, Dich zu sehen. Ich denke, dass wir heute über Deine wissenschaftlichen Arbeiten sprechen. Ich freue mich, dass Du unter die Forscher gegangen bist.” Damit stellte er seinen Drahtstuhl an das Balkonfenster und bot mir den Stuhl gegenüber an. Ich sprach mit Linus über die neuen Risikofaktoren Lipoprotein(a) und meine Entdeckung, dass dieses Molekül nur beim Menschen und anderen Arten vorkommt, welche die Fähigkeit verloren hatten, ihr eigenes Vitamin C herzustellen. Ich kam sofort auf das Wesentliche zu sprechen: “Linus, es gibt einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Lipoprotein(a) und Mangel an Vitamin C, den bisher noch niemand erkannt hatte.” Während die Pazifikwellen gegen die Felsen unter uns brandeten, hörte Linus zu und stellte Fragen. Er hatte noch nie von Lipoprotein( a) gehört. Nach einer Stunde stand er auf und sagte: “Nun, es gibt jedes Jahr rund tausend Veröffentlichungen über Vitamin C. Was ist hieran wirklich neu?”
Dies war einer der typischen Tests, mit dem der berühmte Wissenschaftler, der die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts mitgeschrieben hat, den jungen Wissenschaftler auf die Probe stellt, wie überzeugt er von seinen eigenen Entdeckungen ist. Selbstverständlich war ich überzeugt! Ich antwortete: “Linus, ich möchte einen Vorschlag machen, ich lasse Ihnen diese Unterlagen hier, damit Sie sie durchlesen können. Ich übernachte im Ragged Point Inn Motel. Ich werde morgen wiederkommen und dann können wir uns weiter unterhalten.” Ich hatte Linus’ Test bestanden und er antwortete zufrieden: “Sehr gut.” Ich fuhr zurück zum Highway 1, überzeugt, dass ich am nächsten Tag von einem der brillantesten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts hören würde, ob meine Feststellungen nur Zufall oder ein Prinzip der Natur sind.
Das Ragged Point Inn Motel liegt einige Meilen südlich von Linus’ Ranch direkt über dem Pazifik. Ich übernachtete in einem Zimmer im Erdgeschoss und bereitete mich bis spät in die Nacht auf das weitere Gespräch am nächsten Morgen vor. Ich wusste, ich hatte nur eine Chance, Linus für dieses Projekt zu interessieren. Ich wusste, dass die Aminosäure Lysin die Fettpartikel von Lipoprotein(a) wahrscheinlich daran hindert, sich an den Arterienwänden festzusetzen. Ich machte Zeichnungen, wie die Kombination von Vitamin C und Lysin Ablagerungen in Blutgefäßen und die dadurch entstehenden Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindern könnte.
Der nächste Morgen war der Beginn eines weiteren schönen Herbsttages für Kalifornien. Für die Menschheit war es ein historischer Tag – der Anfang vom Ende der Epidemie der Herz-Kreislauf-Erkrankung. Als ich um neun Uhr auf Linus’ Ranch eintraf, wartete er bereits auf mich. Er sprang von seinem Stuhl auf und begrüßte mich mit Begeisterung. “Ich habe Deine Arbeiten studiert – ganz schön interessant!“ Er versuchte dabei, die Kontrolle zu bewahren, doch er konnte seine Aufregung nicht verbergen. Wir unterhielten uns weitere drei Stunden lang und ich stellte Linus den möglichen therapeutischen Wert von Vitamin C in Kombination mit Lysin nicht nur zur Verhinderung der Ablagerung dieses gefährlichen Fettpartikels in den Arterienwänden, sondern auch zur natürlichen Umkehr der Herz-Kreislauf-Erkrankung vor – durch Freisetzung von Lipoprotein(a) aus diesen Ablagerungen.
Linus stimmte zu, schien aber vom folgenden entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang mehr fasziniert: Dem Verlust der Produktion von Vitamin C und das plötzliche Auftreten von Lipoprotein(a). Dies geschah fast zeitgleich vor ein paar Hunderttausend Generationen. “Ist es nicht erstaunlich, dass dieses Molekül in solch relativ kurzer Zeit während der Entwicklungsgeschichte erschien”, fragte er. Ich erkannte, dass Linus’ Sicht der wissenschaftlichen Probleme sich grundlegend von allen anderen Wissenschaftlern unterschied, die ich kannte. Die Bandbreite seines Denkens deckte Millionen Jahre in der Evolution ebenso ab wie die Struktur von Atomen, die noch nie jemand gesehen hatte.
Ich war ziemlich stolz, diese wissenschaftliche Koryphäe für meine Arbeiten interessiert zu haben. Dieser Sonntagmorgen endete damit, dass Linus mich fragte, ob ich meine Forschungen in Kalifornien fortsetzen wollte und er erklärte mir sogar die Größe seines Grundstücks und die Möglichkeit, ein oder zwei Häuser auf diesem Grundstück zu errichten. Den Grund, warum er diesen Gesichtspunkt ansprach, erkannte ich erst viel später. Er war ein mit seinem Lebenswerk über Vitamine lebendig begrabener Wissenschaftler. Er hatte soeben einen jungen Wissenschaftler getroffen, mit dem er nicht nur seine Ansichten einer besseren Welt, sondern jetzt auch ein gemeinsames wissenschaftliches Interesse teilte. Linus und mir war an diesem Morgen klar, dass meine Entdeckung die Chance bot, dass die gesundheitsfördernde Wirkung der Vitamine in der ganzen Welt Anerkennung findet.
Beim Abschied sagte Linus: “Matthias, dies ist eine sehr wichtige Entdeckung. Ich glaube aber nicht, dass ich mehr tun sollte, als mit Dir darüber zu sprechen.” Offensichtlich spürte Linus, dass er an der Entdeckung nicht beteiligt war und sich lieber der Fortsetzung seiner aktuelle Forschung im Bereich der Physik und der Auflösung der Molekülstruktur von Quasi- Kristallen widmen sollte. Für mich jedoch war dies alles, was ich an diesem Tag wissen musste: Der zweifache Nobelpreisträger hatte meine Entdeckung als Naturprinzip bestätigt. Ich schwang mich in meinen Mietwagen und fuhr auf dem Highway 1 nach Süden, bis ich abends San Diego erreichte. Am nächsten Tag würde ich eine Präsentation an der Herz-Kreislauf-Forschungsabteilung der Universität La Jolla durchführen. Aber jetzt war heute – mein Tag! Ich erinnere mich, wie ich Kühen, Seelöwen und allen anderen Kreaturen zuhupte, die mir an diesem sonnigen Oktobernachmittag über den Weg liefen.
Vier Tage später war ich wieder in Berlin, Deutschland und weitere zwei Tage später erhielt ich einen Brief von Linus Pauling. Er hatte seine dargestellte Indifferenz aufgegeben und zeigte offene Begeisterung. Er schlug vor, ich solle sofort eine wissenschaftliche Veröffentlichung über den Zusammenhang zwischen Lipoprotein(a) und Mangel von Vitamin C für die Beratungen der National Academy of Science schreiben. Wichtiger jedoch war seine Einladung, mich seinem Institut anzuschließen, eine Forschungsgruppe zur Herz-Kreislauf-Erkrankung aufzubauen und sein persönlicher Mitarbeiter zu werden.
Selbstverständlich konnte sich Linus den unzulänglichen Verhältnissen an seinem Institut nicht entziehen. In seinem Brief stand der Satz: “Ich glaube, wir haben sogar eine Ultrazentrifuge im Institut.” Die Verfügbarkeit einer Ultrazentrifuge war natürlich gerade einmal die Mindestausstattung für ein Forschungsinstitut, das diesen Namen verdiente. Mir war bewusst, dass die Forschungsmöglichkeiten an Linus’ Institut äußerst beschränkt sein würden.
Ich schlief eine Nacht über die großzügige Einladung und rief Linus am nächsten Tag an. Ich dankte ihm für die Einladung bei ihm arbeiten zu dürfen, schlug sie aber aus. Ich hatte mich entschlossen, dieses Forschungsprojekt am Baylor College of Medicine in Houston fortzusetzen, eine der führenden Medizin-Zentren in den USA. Ich erklärte dem Nobelpreisträger am Telefon: “Linus, wenn ich mit Ihnen über Vitamin C arbeite, ist es so, als ob alle Katholiken in den Vatikan ziehen. Ich möchte die Vitaminforschung in die etablierte Medizin einbringen, um ihre Akzeptanz auf breiter medizinischer Ebene zu beschleunigen.” Nach einer langen Pause antwortete Linus sichtlich enttäuscht: “Nun gut.” Ich hatte meine Entscheidung getroffen – für diesen Tag.
Wie wenig wusste ich, dass diese Entscheidung nicht mehr als 6 Wochen anhalten würde. Nach einem kurzen Zwischenspiel am Baylor College of Medicine im Januar 1990 nahm meine Faszination, der persönliche Mitarbeiter eines zweifachen Nobelpreisträgers zu werden, überhand. Ich packte meine Koffer und zog von Houston nach Palo Alto.