Die BBC veröffentlichte kürzlich einen Bericht, in dem dutzende Menschen zur Sprache kamen, die als Kinder Opfer medizinischer Experimente wurden – mitten in Großbritannien. An ihnen wurde, als sie während der 1960er und 70er Jahre in einer Psychiatrischen Klinik in Behandlung waren, ein „Wahrheitsserum“ ausgetestet. Die Versuche haben bei ihnen verstörende Erinnerungen und ungelöste Fragen hinterlassen, schildert der Bericht. Alle die bislang davon ausgingen, die Zeit krimineller Experimente durch oder zugunsten von pharmazeutischen, chemischen oder sonstigen Interessen sei seit den Nazi-Ärzten und dem Ende des IG Farben Kartells vorbei, werden nachweislich eines besseren belehrt. Tatsächlich fanden solche Versuche im vergangenen Jahrhundert weit häufiger statt als viele Menschen wahrhaben wollen.
Durchgeführt wurden die im BBC-Bericht beschriebenen Tests im englischen Aston Hall (Derbyshire). Dabei sollen Kinder entkleidet und an ihren Händen fixiert in „Behandlungszimmern“ eingeschlossen worden sein. Verabreicht wurden ihnen Injektionen von Natrium-Amytal, einem so genannten „Wahrheitsserum“, angeblich, um „versteckte Traumata“ zu lösen.
Angesichts des Leids, das die Patienten ihr Leben lang durch die Auswirkungen dieser Experimente davontragen, liegt die Nähe zu den verbrecherischen Medizinversuchen, die während des Zweiten Weltkriegs von NS-Ärzten und dem deutschen IG Farben Kartell durchgeführt wurden, auf der Hand. So grausam und brutal wie diese damaligen Testreihen bekanntlich waren, es blieben nicht die einzigen.
Die Aufzeichnungen über das britische Militär sind in dieser Hinsicht keineswegs besser. Bei Versuchen, die in den 1950er und 60er Jahren am Porton Down, der topgeheimen Forschungseinrichtung in Wiltshire durchgeführt wurden, erhielten Soldaten, die zuvor als Freiwillige geworben wurden, am Test eines „Erkältungsmittels“ teilzunehmen, stattdessen bestimmte Formen des Nervengiftes Sarin, welches während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis entwickelt wurde. Absehbar war auch hier, dass viele ein Leben lang an den gesundheitlichen Schäden leiden würden. Es wird davon ausgegangen, dass zwischen 1939 und 1989 insgesamt einige tausend Armeeangehörige an Experimenten in dieser Einrichtung teilgenommen haben. In mindestens einem Fall ist definitiv bekannt, dass der Testteilnehmer widerrechtlich zu Tode zu gebracht wurde.
Schlimm genug, dass Porton-Down-Wissenschaftler Soldaten als „Versuchskaninchen“ missbraucht haben. Doch wohl noch schlimmer wiegt die Tatsache, dass die breite britische Öffentlichkeit von ihnen heimlich zu Versuchen herangezogen wurde. In den frühen 1960ern fuhr ein von Porton-Down-Wissenschaftlern gelenkter Land Rover durch den Südwesten Englands und versprühte vorsätzlich Zink-Cadmium-Sulfid in die Luft, um angeblich einen Angriff mit bakteriologischen Waffen zu simulieren und herauszufinden, wie deren Ausbreitung ablaufen würde. Aufschlussreich ist, dass die Wissenschaftler am Steuer dieses Fahrzeugs – im Gegensatz zu den unvorbereiteten zivilen Opfern, welche sie auf ihrer Fahrt antrafen – Schutzanzüge und Gasmasken trugen und dass ihr Gesundheitszustand anschließend jährlich untersucht wurde.
Eines der wahrscheinlich berüchtigtsten kriminellen Arzneimittelexperimente betrifft in den USA die so genannte Tuskegee Syphilis Studie. Zwischen 1932 und 1972 verlockten Ärzte des öffentlichen US-Gesundheitsdienstes rund 400 mittellose Afroamerikaner, die an Syphilis erkrankt waren, zur Teilnahme an einer Studie, deren eigentliches Ziel den Männern vorenthalten wurde: die Beobachtung des natürlichen Fortschreitens der Krankheit, wenn diese ohne Behandlung bleibt. Über die gesamten 40 Jahre des Studienzeitraums hinweg wurde den Probanden wohlweislich verschwiegen, dass sie an Syphilis litten und sie keinerlei Behandlung dagegen bekämen.
Die Tuskegee-Studie ist mit Sicherheit eines der kriminellsten jener heuchlerischen medizinischen Experimente. Sie wurde rücksichtslos fortgesetzt, selbst als die kaum vorstellbaren Menschenversuche der Nazi-Ärzte und Manager von IG Farben in den späten 1940er Jahren öffentlich wurden: unbeirrt noch um ein weiteres Vierteljahrhundert! Bekanntermaßen wurde eine Reihe der NS-Täter wegen ihrer Zwangsversuche sowie wegen anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten zur Rechenschaft gezogen, und sie erhielten teilweise die Todesstrafe. Im Mai 1997, als sich der Präsident Bill Clinton schließlich für die Tuskegee-Vorgänge entschuldigte, hatten nur noch sieben Patienten überlebt, um davon Zeugnis zu geben.Ein Fall, der es an Menschenverachtung und schierer Grausamkeit ohne weiteres mit der Tuskegee-Studie aufnehmen kann, ist allerdings auch dieser: Zwischen 1946 und 1948 infizierten amerikanische Ärzte vorsätzlich rund 700 Guatemalteken mit Geschlechtskrankheiten, erklärtermaßen um die Wirksamkeit von Penicillin auszutesten. Gesteigert wird dieses dunkle Kapitel der Medizingeschichte dadurch, dass für diese schockierenden Experimente auch noch Gefängnisinsassen, Geisteskranke und Soldaten als Opfer herangezogen wurden. Und um es noch einmal ausdrücklich zu betonen: Zur gleichen Zeit, als die US-Regierung darum bemüht war, Nazi-Ärzte aufgrund ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verurteilen, unterstützte sie andernorts Menschenversuche, die in ihren Handlungen nicht weniger kriminell waren.
Selbstverständlich wäre es wünschenswert, damit schließen zu können, dass diese seit beinahe einem Jahrhundert andauernde Verbrechensgeschichte von medizinischen Zwangsbehandlungen und tödlichen Experimenten mit giftigen Substanzen nun endlich der Vergangenheit angehört. Doch dem ist leider nicht so. Wir sind davon noch immer ein Stück Weges entfernt. Solange eine staatlich unterstützte Kindesmisshandlung weiterhin wehrlose, an Krebs erkrankte Kinder dazu zwingt, sich der Chemotherapie auszusetzen, solange wie Experimente der Pharmazeutischen Industrie mit Hirnschädigungen und Tod enden, solange arme Menschen in Entwicklungsländern mit illegalen Pharmaversuchen hinters Licht geführt werden, bleibt noch einiges zu tun. Doch solange es auch unsererseits genügend Menschen gibt, die bereit sind, so viele Menschen wie möglich über die Wahrheit in Kenntnis zu setzen, wird sich letztlich die Entwicklung in eine bessere Welt vollziehen.